Blue Eyes

Blue Eyes

Sie erwachte in ihrem Bett. Es roch nach der frischen weichen Frühlingsluft, die zum geöffneten Fenster hereinströmte. Der Wind brachte einen leichten Hauch von Lavendel mit sich. Sie erhob sich grazil aus dem Bett und tastete wie jeden Morgen zuerst nach ihren Flügeln. Erst als sie die zarten Federn unter ihren Fingern fühlte, ging es ihr besser. Ein kleines, fast schon unsichtbares Lächeln ließ ihr Gesicht aufstrahlen, kurz bevor es wieder von ihren Lippen verschwand. Sie streckte ihre Flügel und stand auf. Die Federn raschelten leise, als die Frühlingsbrise sie streifte.

Spielerisch schien der Wind sie aufzufordern, ihre Flügel zu spreizen und zu fliegen. Doch sie hatte jetzt keine Zeit, so sehr sie auch wollte. Immerhin musste sie zur Schule. Barfuß schlich sie zu ihrem kleinen Schminkspiegel und sah hinein. Ein Mädchen blickte ihr entgegen. Es hatte ein hübsches Gesicht mit glasklaren silbernen Augen. Sie sah noch eine Weile das Mädchen im Spiegel an, bis sie glaubte, sich in den unglaublichen Augen zu verlieren. Es war wohl die Farbe der Pupillen, die sie zu etwas Besonderem machten. Es war eine undefinierbare Farbe, einmalig auf dieser Welt. Kein Grau, kein Blau kam an diese Augen heran. Sie schienen ein Tor zum Himmel zu öffnen, zu der Welt über den Wolken. Sie blinzelte. Manchmal verstand sie, warum sie tagsüber ein Mensch sein musste, aber niemals würde sie den schweren menschlichen Körper gegen den Federleichten eines Engels eintauschen. Niemals würde ihr eine Farbe lieber sein als das Silber, dessen Schein dem des Mondes ähnelte. Mit traurigem Blick sah sie zu, wie der Mondschein in ihren Augen zu einem einfachen Blau verschmolz. Das geschah immer, wenn die Sonne ihren Weg an den Horizont mit ihrem grellen Schein stolz erklomm und den Mond und die Nacht vertrieb. Erst als das letzte silberne Funkeln erloschen war, erhob sie sich. Ein letztes Mal blickte sie das Mädchen im Spiegel an, dessen Flügel erloschen wie der Glanz einer Kerze wenn der Docht sich dem Ende neigt. Der Tag hatte nun, da nichts mehr von dem Engel zu sehen war, seinen Lauf genommen. Nur noch ein Mädchen mit blauen Augen stand allein in ihrem Zimmer. Auch wenn ihre blauen Augen unglaublich schön waren, so würde sie sich doch immer das Silber des Mondes statt der klaren Farbe des Abendhimmels herbeiwünschen, wenn sie tagsüber ein Mensch war. Sie wollte nicht nur nachts ein Engel sein, sondern für immer. Auch wenn sie ein unglaublich schöner Mensch war, so war es ihr nicht genug. Sie sehnte sich nach dem rauschenden Gefieder, dessen sanfte Berührung wie der Hauch des Abendwindes war.

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