Selenes Monster
Selene Winter war ein schwieriges Kind. Keinesfalls war sie schwer zu erziehen, oder gar unartig. Doch Selene war ein durch und durch nicht schreckhaftes Kind. Für eine Agentur, die Monster an Kinder vermittelte, war das ein Problem. Warum die Agentur sich das Erschrecken von kleinen Kindern zum Ziel gemacht hat? Fragt mich nicht, ich bin nur ein Verwaltungsangestellter, der die ganzen Akten ordnet. Normalerweise. Selbst die Top Agenten, grausam stinkende Monster mit schleimigen Tentakeln und hechelndem Atem konnten Selene nicht verunsichern. Und damit die Akte Selene Winter endlich ins Archiv wandeln konnte, mussten alle Monster eine Nacht lang versucht haben, sie zu erschrecken. So weit so gut. Ich war also entweder die einzige Hoffnung der Agentur, oder das Ende einer langen Kette Monster, die bei Selene keinen Erfolg gehabt hatten. Also schleiche ich mich nachts heimlich in ihr Zimmer. Sie liegt in ihrem Bett, ruhig und tief atmend. Sie schläft. Ich nähere mich ihr geräuschlos, schaue auf das engelsgleiche kleine Gesichtchen unter mir. Mit toten, kalten, schwarzen Augen starre ich auf das schlafende Kind.
Langsam kriecht meine Kälte zu ihr ins Bett, umschlingt ihre Beinchen, den Torso, die Brust. Selenes Schlaf wird unruhig, doch sie wacht nicht auf. Da wird unten die Tür aufgesperrt. Langsame knarrende Schritte, unsicher gegen Möbel taumelnd nähern sich der Treppe. Alkoholgetränktes Gegröle hallt durch den Flur. Durch die geschlossene Tür höre ich eine weibliche Stimme, die Stimme von Selenes Mutter geduldig und ruhig auf die Stimme ihres betrunkenen Ehemannes einreden. Man hört ihn durch die Wände schreien und dann den spitzen Entsetzenslaut, den ihre Mutter von sich gibt, als er sie schlägt. Da merke ich endlich , dass Selene längst nicht mehr schläft. Ihre kleinen Hände haben sich um meinen dürren weißen Arm geklammert und sie schluchzt gegen mein blutbeflecktes weißes Hemd. Ich bin mit der Situation eindeutig überfordert. Natürlich wollte ich dass sie Angst hat, aber doch vor mir und jetzt bin ich ihr Trostspender? Ich möchte sie schon von mir wegstoßen, möchte ihr den Schreck ihres Lebens verpassen, doch sie hat mich mit sich unter das Bett gezogen und kauert dort wie ein zitterndes kleines Häschen, das auf den Jäger wartet. Wir hören die Kinderzimmertüre quietschen, hören trampelnde Schritte, die knapp vor uns zum Stehen kommen.
Es ist totenstill im Zimmer. Ich sehe zu Selene. Ihre Augen sind weit aufgerissen und panisch. Ihr tränenerstickter Atem geht hastig und das kleine Herzchen könnte ihr vor lauter Angst aus der Brust springen. Sie hält sich die kleine Kinderhand vor den Mund um nicht zu laut zu atmen, um bloß kein Geräusch zu machen. Angespannt sitzt sie da, wartet, horcht, fürchtet. Ich sitze neben ihr, zu verwirrt, um zu reagieren und irgendwie regt sich in mir auch so etwas wie Mitleid für das verstörte Kind. Nach ewiger Stille passiert immer noch nichts. Dann greift plötzlich eine große kräftige Männerhand unter das Bett und greift aus dem Nichts nach Selenes Arm. Die Fingernägel graben sich tief in die zarte Haut und der Betrunkene zerrt das Mädchen grob unter dem Bett hervor. Ich höre, wie seine Hand durch die Luft saust, wie der Schlag mit einem ohrenbetäubenden Knall auf das zerbrechliche Kind trifft. Ich höre Selene schluchzen. Ich kann es nicht länger ertragen. Ich kann nicht. Ich krieche unter dem Bett hervor, leise, ungesehen und ungehört. Ich will verschwinden, denn diese Sache hier wird mir zu heiß. Aus dem Augenwinkel sehe ich Selenes Kopf auf den Boden schlagen, höre das dumpfe Geräusch, als der Schädel auf den Boden trifft.
Er würgt sie, schlägt den kleinen Kopf gegen das Parkett. Selenes Blick findet mich, ihre rehbraunen Augen sehen mich flehentlich an. Sie streckt ihre kleine Kinderhand nach mir aus, flüstert tonlos „Hilf mir!“. Der Mann brüllt sie an, was für eine ungezogene Göre sie sei und wie undankbar. Er schreit, sie solle ihm verdammt dankbar sein, dass er sie überhaupt am Leben ließe. Dann erstarrt er plötzlich mitten in der Bewegung. Sein Griff um Selenes kleinen zerbrechlichen Hals lockert sich. Eine eiskalte Hand hat sich um seine Kehle geschlossen. Er dreht sich um. Wahnsinnige Furcht spiegelt sich in seinem Blick. Ich hebe ihn mühelos hoch. Sein Blick wandert entsetzt von meinem eingefallenen wächsernen Gesicht über die zerrissenen blutigen Kleider. Er realisiert, dass ich ein Monster bin. Sein Gesicht wandelt sich von wütend und betrunken zu ängstlich, panisch und beinahe schon nüchtern. Meine Kälte kriecht über meine Finger an seinen Hals, lässt ihn keuchen und würgen, brennt auf seiner Haut. Ich nähere mich ihm, blicke ihm fest ins Gesicht und sage mit düsterer, heiserer Stimme: „Du solltest mir dankbar sein, dass ich dich am Leben lasse! Solltest du je wieder Hand an sie legen, bist du ein toter Mann. Dann quäle ich dich, bis du mich anbettelst, sterben zu dürfen. Hast du mich verstanden?“. Er nickt nur, zum Atmen schnüre ich ihm die Luft ab. Ich lasse ihn los und er kriecht winselnd aus dem Zimmer. Langsam drehe ich mich zu Selene um.
Ich lächele sie an. „Keine Angst, Selene. Ich passe auf dich auf. Bis morgen Nacht“. Erst als ich längst wieder im Büro sitze, wird mir klar, warum Selene keine Angst vor Monstern hat. Was ist schon ein kreischendes Albtraummonster gegen das Monster, das nach Alkohol stinkt und sie und ihre Mutter schlägt? Selene hat Angst. Vor ihrem eigenen Monster