Briefe an einen Engel

Briefe an einen Engel

Die Tinte tropft auf das Papier und ein kleiner tiefblauer Fleck verunstaltet den Brief, den ich an meinen Engel geschrieben habe. Jede Nacht schreibe ich einen neuen Brief, aber ich habe noch nie eine Antwort bekommen. Noch einmal lese ich mir durch, was ich geschrieben habe.

„Geliebter Engel, auch, wenn du mir nie zurückschreibst, habe ich dich nie aufgeben. Ich weiß, dass du immer bei mir bist und mich beschützt. Doch warum erhörst du meine Gebete nicht, obwohl ich jede Nacht aufbleibe, um zumindest den Schatten deiner Flügel von dem Mond erkennen zu können. Heute habe ich eine Feder gefunden und lege sie in diesen Brief, den ich dir schicken werde. Sie ist wunderschön und ich wünschte, ich hätte auch solche Flügel. Du siehst also, dass mein Wunsch immer noch der Selbe ist, wie in meinen vorherigen Briefen. Wenn du mich nur irgendwie hörst, dann antworte bitte und erfülle mir diesen einen Wunsch. Vielleicht weißt du es ja, dass heute mein Geburtstag ist. Dieser Brief ist mein letzter. Seit ich zehn bin, schicke ich ihn dir jede Nacht. Und jetzt bin ich zwanzig. Obwohl ich mir einmal geschworen hatte, dass ich dir bis an mein Lebensende schreiben werde, mein Engel, habe ich längst den Glauben daran verloren, jemals wie du zu sein. Wenn dieses Stück Papier dich erreicht, dann weißt du, dass ich mich geschlagen gebe. Du sollst nur noch eines wissen, bevor ich nun aufhöre zu glauben: Mein Engel, ich werde dich immer lieben“.

Eine Träne besiegelt den Brief. Ich lege die schneeweiße Schwanenfeder hinein und schließe das Kuvert. Mit zittrigen Händen öffne ich mein Fenster. Die eiskalte Nachtluft strömt über mein Gesicht. Liebkosend umschmeichelt mich der Wind. Früher habe ich mir immer vorgestellt, dass es die Umarmung meines Engels sei. Aber mein Glauben ist erschöpft. Ich kann nicht mehr an so viel Wärme und Freundlichkeit in einer Welt glauben, in der Kälte und Anonymität die Menschen zu willenlosen Sklaven des Geldes machen. Die ausdruckslosen starren Gesichter im blassen leblosen Schein ihrer Mobiltelefone. Wie jede Nacht ist es um mich herum ruhig, bis auf den Wind, der den Himmel erobert. Ich klettere aus dem Haus, lande im taufeuchten Gras, das im nächtlichen Mondenschein  silbern glitzert. Meine Schritte lenken mich über die weite Wiese. Die weichen Halme unter meinen Füßen umschmeicheln meine Knöchel. Ich gehe in den Wald zu der mächtigen Linde, die seit hunderten von Jahren ihre Äste beschützend über die anderen Bäume streckt. Die verwitterte Rinde fühlt sich rau und runzlig an wie die Haut eines sehr alten Menschen. Sanft streichen meine Finger über den alten Baum. Wie von selbst finden sie die Kuhle im Stamm der Linde. Das Briefkuvert hebt sich deutlich vor der dunklen Rinde ab, als ich es in die Vertiefung lege. Morgen wird es verschwunden sein. Vielleicht von einem Bewohner des Waldes als Nestmaterial für die Jungen verwendet oder vom Wind in eine andere Welt getragen. Oder vielleicht hat mein Engel meinen Brief an sich genommen und erfüllt mir endlich meinen Wunsch. Noch eine Zeit lang verweilt meine Hand an der alten Linde. Mit geschlossenen Augen und wenn man aufmerksam zuhört, dann kann man den pochenden Herzschlag des Lebens unter der harten Holzschicht vernehmen. Ich liebe diesen Baum. Mein Vater hat mich früher im Sommer oft hierher mitgenommen und mir im kühlenden Schatten des alten Baumes fantasievolle Geschichten aus anderen Welten erzählt und manchmal sind wir bis tief in die Nacht hier gesessen, nebeneinander unter der Linde und haben Sternbilder erfunden. Neben dem Nordstern stand für uns ein winkender Eisbär und der große Wagen war unsere Rakete, die uns entlang der Milchstraße ins Abenteuerland entführte. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich in den Armen meines Vaters hier eingeschlafen war, bis er mich nach Hause getragen hatte. Heute Nacht ist der Himmel sternenklar und man erkennt den leichten Schimmer der Milchstraße zwischen den strahlenden Sternen. Das Sternbild des großen chinesischen Drachen scheint auf mich hernieder und ich denke an die Zeit, als Papa noch bei mir war. Als wir noch glücklich waren. Mir wird bewusst, dass mir Tränen über die Wangen laufen. Mit dem Ärmel meines Schlafanzuges wische ich sie weg. Mein Blick streift ein letztes Mal die majestätische Krone der alten Linde. Dann drehe ich mich um und verlasse diesen wunderschönen Ort. Und wieder frage ich mich, ob mein Engel meinen Brief lesen wird.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.